Anklage gegen das Nichtstun
Oswald Henke richtet nicht, er provoziert
16.10.2009 [ak] Freitagabend. Nach einer Stunde Fahrt kommen wir endlich in Mühlhausen an. Erst gestern kaufte ich ein berühmtes Produkt gefertigt aus Pflaumen aus diesem Mühlenort. Naja, diese Assoziation liegt ja auf der Hand. Weg von Gaumenfreuden kommen wir lieber zu Ohrenfreuden. Oswald Henke zu Gast in der Kulturfabrik. Nachdem wir uns entschieden, durch die rechte Tür zu treten, anstatt der linken, an dessen Rahmen ein Schild mit der Aufschrift Ergotherapie angebracht war, gelangen wir in einen Raum mit vielen Konzert- und Tourplakaten. Eine Frau drückt uns zwei Teelichter in die Hand. Im Raum sitzen meist schwarz gekleidete Damen und Herren in den Mittzwanzigern. Die Stimmung ist etwas befangen, aber doch freundlich.
Die Hintergrundmusik wird gedämpft und der Henke(r) tritt auf die kleine Bühne. „Herzlich willkommen zu einer typisch deutschen Lesung“, sagt der Mann. Er grinst. Ja, diese Worte sind wohl berechtigt in Anbetracht der Tatsache, dass deutsche Lesungen bisweilen meist statisch wirken und je nach Publikum sogar bis ins unangenehme intellektuell-arrogante Überwissen abgleiten können. Doch hier scheint es anders zu sein. Für die ersten vier Gäste gibt es ein Glas Sekt zur Lockerung. Didaktisch wertvoll. Ebenso, wie sich zwei Assistentinnen auf die Bühne zu holen. „Engel links, Teufel rechts“, denke ich während Oswald die Aufgaben der Damen erklärt. Die Eine dient zur Lockerung der doch recht schwermütigen Kost: Seifenblasen darf sie machen. Die andere bekommt Kreide und Wasserbömbchen zum Schmeißen. Unverhoffter Dinge legt er los. „Welches Seelenleid ihr habt.“ Der Sprechgesang von Goethes Erben ist wohl erkennbar, melodisch und doch gleichtönig stellt er schwere, tiefsinnige Fragen in den Raum: „Hat Intelligenz etwas mit Glück zu tun? Existiert ein tieferer Sinn? […]eigene Träume scheitern sehn und trotzdem weiterspiel‘n“. Die Fragen nach Gut und Böse, nach der Unzulänglichkeit der menschlichen Natur, Hass, Habgier und Neid, die Verteilung der Reichtümer und all diese manchmal sinnüberflutenden Fragen stellt er. Henke schreibt ein neues Buch. Gedichte und Prosatexte wie „Herbstkinder“ und „Wie schmeckt ein Kuss“ rezitiert er. Nach so viel Tiefgang ist es schwierig die Kurve zu kriegen, um das Publikum nicht an das Selbstmitleid und den Gedankenstrudel zu verlieren. Was hilft da am besten? Reinplatzen: „Henke digital 3.0.“, ja auch er ist im 21. Jahrhundert angekommen.
Sehr schön finde ich seine folgende Abhandlung über die Gotik-Szene (früher noch mit „h“ geschrieben“), die durchaus Parallelen zu anderen Subkulturen zulässt: das Fehlen des tieferen Sinns. „Aggressives Gestampfe mit inhaltlich leeren Texten. Alles was melodisch klingt ist unhörbar – Szenerassismus.“ War die Dark und Goth-Szene in den Neunzigern noch eine Szene mit einem bestimmtem Lebensgefühl, mit Intellekt, so ist es heute nur noch Provokation. Und auch die Subkulturen können sich anscheinend nicht vor der weltumfassenden Massenverdummung schützen. Sicher, Provokation war gewollt, aber nicht alles. Passend als Einstieg gelangt er über dieses Thema zum eigentlichen: Die Gesellschaftskritik. Was für ein großes Wort, fast schon eine leere Worthülse, doch Henke schafft es, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger auf das große Unbekannte zu zeigen, nicht auf die da oben, sondern fängt bei jedem einzelnen Gast an. „Wer war wählen?“ Nur etwa 20 Prozent melden sich. „Ist das politisches Unvermögen oder Desinteresse? Wahlen sind das Instrument zur Machtverteilung und eine Bürgerpflicht“.
„Wenn alles sprachlos wird“, wieder die unverkennbaren Prosatexte. Durch den Sprung zwischen gedankenverlierender Lyrik und der Realität ist es schwierig die Inhalte wirken zu lassen. Aber anders geht es eben nicht, wenn man so viel zu sagen hat. Und es gibt viel zu sagen. „Wir sind das Volk, doch ich höre nichts“. Nicht zu unterschlagen ist seine Abhandlung über die Trashsüßigkeiten, wie er sie liebevoll nennt: die Leckmuschel, Brausepulver, die essbare Uhr und Zuckerwatte aus der Dose. Alles in allem war es eine nette, charmante, witzige Veranstaltung, die es schaffte zu kritisieren, ohne zu ermahnen. Die zum Nachdenken anregte über den Sinn und den Unsinn des Lebens. Die ein Appell war, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sich verantwortlich für die Gesellschaft zu fühlen und sich nicht dem Gros der menschenzerfressenden Gleichgültigkeit und dem herben Egoismus hinzugeben. Denn wir alle bewohnen diese Erde und müssen gemeinsam auf ihr leben. Das Dilemma des 21. Jahrhunderts hat erst angefangen. Oswald Henke sprach mir aus dem Herzen. Auch wenn die Verpackung etwas bizarr war, war der Inhalt doch ein Ruf der Menschlichkeit; ein Ruf der lange überfällig war und der hofft, zu überzeugen. „Bin ich wahnsinnig, weil ich hoffe?“