Der Graf und das Meer
Große Freiheit II – Die Reise geht weiter. Unheilig mit Jubiläumstour in Erfurt.
22.01.2011 [db] Zehn Jahre Unheilig. Zehn Jahre bereits gibt es den Grafen. Nicht erst seit „Geboren um zu leben“. Er segelt schon sehr viel länger durch raue und stürmische See. Dem Horizont entgegen. Am Samstagabend machte der Graf einmal mehr Halt in Erfurt. Und vor der Thüringenhalle bot sich mir ein sehr vertrautes Bild. Eine riesige Menschenmenge harrte dort auf Einlass. Die beiden Treppen, die zur Halle hinaufführen waren restlos verstopft. Doch dieses Mal waren beide Eingänge geöffnet und die Besucher gelangten wesentlich schneller ins Innere als noch im März 2010, als draußen noch Unmengen an Fans darauf warteten hineingelassen zu werden, während der Autogrammstand bereits dicht machte und der erste Support Act – damals Zeromancer – die Halle rockte. Auch dieses Mal waren wieder zwei feine Bands mit an Bord: Apoptygma Berzerk und The Beauty of Gemina. Das Einzige, was fehlte, war die Autogrammstunde vorher.
Schon beim ersten Teil der Tour, warteten Unheilig mit zwei großartigen Supportacts auf – Zeromancer und Diary of Dreams allein sind schon den Eintritt wert. Da wurde viel geboten fürs Geld. So auch bei „Große Freiheit II“. Das Line Up des Abends war maßgeschneidert auf Gothic Rock und Future Pop-Fans. Wobei ich mich bei einem Blick ins Publikum doch ernsthaft fragte, wie viele der Anwesenden mit den Vorbands und dem breiten musikalischen Spektrum von Unheilig eigentlich wirklich etwas anfangen können. Im vergangenen Jahr war die vorherrschende Farbe noch schwarz und der Duft nach Patschuli hier und da zu viel des Guten. Dieses Mal würde es ein Konzert für die nachgewachsene Generation Unheilig-Fans werden, jeder Altersstufe. Mit deutlich weniger Patschuli, aber ganz hatten sich die Grufties dann doch nicht vertreiben lassen. Die ersten Reihen gehörten ihnen.
Sehr früh – oder besser pünktlich – ging der Spot für die erste Band des Abends an: The Beauty of Gemina. Die Schweizer Band um Sänger und Songwriter Michael Sele besteht seit 2006 und fügt sich nahtlos in die Reihe solider Gothic Rock Bands ein. Das aktuelle Album „At the End oft he Sea“ scheint zumindest vom Titel her doch recht gut zum Hauptact der Tour zu passen. Doch The Beauty of Gemina klingen anders. Und doch sehr vertraut. Bisweilen erinnerte mich manche Hookline doch stark an den ein oder anderen Vertreter des düsteren Electrosounds. Michael Sele hat eine einprägsame Stimme, keine Frage. Er hat Bühnenpräsenz, was er auf den ersten Blick seinem „shocking“ schlohweißen Haar zu verdanken hat. Die Songs – und leider blieb den beiden Vorbands nicht viel Platz für Songs bei einer halben Stunde Spielzeit – waren allesamt tanzbar und hatten einen treibenden Beat, der durch satte Gitarrenklänge untermalt wurde. Darüber Seles Stimme und das Gesamtbild war recht stimmig. Hätte man da nicht permanent einen Synthesizer gehört, aber nicht gesehen. Wo hatten die Schweizer den denn versteckt? Bevor ich dieses Rätsel für mich lösen konnte, war die Spielzeit um und das Set für Apoptygma Berzerk wurde aufgebaut.
Ah, Apoptygma Berzerk sehen und hören ist jedes Mal wie nach Hause kommen. In der Halle outeten sich viele als APB-Fans, als der Spot anging und die ersten Töne erklangen. Stephan Groth ist und bleibt ein charmanter Berserker, der die Massen bewegen kann. Seinen Hang zu Verschwörungstheorien mal beiseitegeschoben, der Mann brachte mit seiner Band an diesem Abend die Thüringenhalle zum ersten Mal zum kochen und hinterließ den Wunsch nach mehr. APB haben einen unvergleichlichen Sound, der live mitreißt. Das Cover von „Major Tom“ ist immer wieder herrlich – dieser Mix aus Groths englischem Gesang und dem deutschsprachigen Publikumschor ist einmalig. An dieser Stelle hatte er auch die etwas verstört dreinschauenden älteren Herrschaften im Publikum für sich gewonnen. Plötzlich zappelten sie alle um mich herum. APB müssen dringend wieder eine eigene Headliner-Tour hierzulande fahren. Unbedingt.
Innerlich hatte ich mich schon darauf vorbereitet, dass die Umbaupause vor Unheilig wieder sehr lang werden würde. Dass das Intro „Das Meer“ wieder unzählige angespielt werden würde – aber nichts dergleichen. Zackig und schnell wurden die Instrumente ausgetauscht, der Vorhang gelüftet, der den Blick auf das imposante Bühnenbild freigab und die riesigen Kerzenständer in Stellung gebracht. Zählt das eigentlich schon als Pyrotechnik?
Für die Unheiligfans im Publikum waren die nächsten Minuten dann sehr vertraut, für die Neu-Fans war es das erste Mal Zeit für spontane und langanhaltende Gänsehaut. Das Nebelhorn ertönte und „Das Meer“ erklang, dann sang Hans Albers und auf der großen Leinwand wurde ein Countdown sichtbar. Grandios gemacht. Bei den ersten Takten von „Seenot“ stürmte der Graf die Bühne und nahm die Erfurter wieder mit auf seine Reise zur Großen Freiheit. Was überraschte, was wirklich überraschte, war die ehrliche Freude und Begeisterung im Gesicht des Grafen, als er das erste Mal auf der Bühne zur Ruhe kam und sich das Meer kreischender Fans, das vor ihm wogte ansah. Man kann schimpfen und meckern, wie man will – ob sein Auftritt bei Carmen Nebel nun glücklich war oder nicht, ob er nach zehn Jahren plötzlich Schlagersänger ist oder nicht. Sicher ist eines: den Erfolg und die Begeisterung, die ihm entgegenschlägt, hat er sich erarbeitet. Das sollten alle Unkenrufer und Neider bedenken. Unheilig kamen nicht von Null auf Hundert. Da steckt eine jahrelanger und weiter musikalischer Weg dahinter, an dessen vorläufigem Ende diese Erfolgsspitze steht. Man sollte es ihm gönnen. Auch all die neuen Fans und Plattenkäufer, die in karierten Hemden und mit Strickweste zu seinen Konzerten gehen und mit glänzenden Augen jeden Song in sich aufsaugen. Es gibt keine Beschränkung, wer von wem Fan sein darf. Unheilig ist unheilig geblieben. Der musikalische Horizont der breiten Masse hat sich erweitert. So sollte man es sehen. Schlussendlich war das Konzert in Erfurt erneut ein unvergessliches Erlebnis für all jene, die die ruhigen Momente und die tiefen Gefühle ebenso sehr schätzen, wie das aufbrausende und stürmische Gemüt. All das, was sich auf dem Album „Große Freiheit“ so wunderbar miteinander vereinigte und was live so überragend von einem Künstler allein transportiert wird.